„Ganz Hamburg spielt in Liga 2“. Und ganz Hamburg liefert ab. Der FC St.Pauli hat mit der schwachen Hinrunde 2016/17 und der schwachen letzten Saison keine großen Hoffnungen geschürt. Doch statt weiterer Tristesse oder einer bösen Überraschung, brannte das Team von Markus Kauczinski eine Sensationshinrunde auf den Platz. Rang drei nach 18 Spielen – Wie kann das sein?

Zum Einstieg die nüchternen Fakten: 34 Punkte, 30 Tore, 22 Gegentore. Die Mannschaft spielt sowohl am Millerntor, als auch auswärts identisch gut (5/2/2) und hat die drittbeste Defensive im Unterhaus. Letztes Jahr zu dieser Zeit hatte man zehn Zähler und zwölf Treffer weniger. Statt Mittelmaß spielt man plötzlich um den Aufstieg (oder zumindest die Relegation) mit. Nur zwei Punkte Rückstand auf den scheinbar übermächtigen 1.FC Köln und auch der laute Nachbar aus dem Volkspark ist nicht so weit weg. Doch traut man sich jetzt tatsächlich zu träumen oder eher dem Braten nicht?

Das Erbe der letzten Saison

Krisensaisons haben ja gerne mal den Effekt, dass die folgende Spielzeit besser wird. So wurde der FCSP Vierter in der Saison 15/16, obwohl man im Spieljahr zuvor nur knapp dem Abstieg entronnen war. Arminia Bielefeld legte eine ähnliche Entwicklung hin, als sie die Klasse mit einem Kantersieg über Braunschweig sicherten und in der letzten Saison plötzlich zu den Top-Teams gehörten. Nun sicherten sich die braun-weißen im Sommer den Klassenerhalt auch nur mit einem kollektiven Kraftakt von Fans und Mannschaft. Das 3:0 gegen Fürth und das 1:0 gegen Bielefeld am Millerntor, waren überlebenswichtig und scheinbar identitätsstiftend für das Team. Gepaart mit der USA-Reise scheint ein neuner Geist entfacht worden zu sein. Sami Allagui gab im Millernton-Podcast zu Protokoll, dass diese Reise gut für Teamspirit und Vereinsbindung war. Man habe viel besser erleben können, was es heißt St.Pauli-Spieler zu sein. Der vieldiskutierte Trip scheint sportlich ein Gewinn gewesen zu sein.

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Überhaupt ist Allagui ein guter Aufhänger. Der Stürmer war sicherlich nicht nur bei mir nicht besonders beliebt, erst recht nach seinem Feldverweis in Regensburg und dem drohenden Abstieg nach der dortigen Niederlage. Doch man muss Abbitte leisten beim Stürmer. Er gab zu Letzt an (ebenfalls im Millernton), dass ihm seine eigene Körpersprache nicht gefiel. Also arbeitete er an ihr und stand somit nach der Sommerpause häufig in der Anfangself. Für einen langjährigen Erstligaspieler keine alltäglich Reflektion, die man ihm hoch anrechnen muss. Scheinbar hat die frustige Saison 17/18 ihre Spuren hinterlassen und zu gewissen Veränderungen und Verbesserungen geführt. Auch eine Verletzungspause nach dem Pokalaus, konnte ihn nicht wirklich bremsen. Der Stürmer ist zurecht eine Topoption in der Offensive und ein Sinnbild für die positive Entwicklung.

Die Neuen und die Alten

Auf dem Transfermarkt war man als FC St.Pauli nicht übermäßig aktiv. Was man aber tat, war aber bis zum Winter von Erfolg gekrönt. Mats Möller-Daehli wurde fest verpflichtet, Marvin Knoll kam aus Regensburg und für den Sturm holte man Henk Veerman aus Heerenveen. Dazu Diamantakos der schon vergangenen Winter kam und Florian Carstens, sowie Ersin Zehir, die aus der eigenen U23 fest in den Profikader rückten. Klingt nicht übermäßig spektakulär, aber alle spielten ihre Rolle. Besonders Knoll ist unverzichtbar im defensiven Mittelfeld. Ja, der Berliner wurde als Innenverteidiger geholt, im Mittelfeld spielt er jedoch deutlich besser. Er stopft unermüdlich Löcher, schlägt sensationelle Standards und fungiert als Bindeglied zwischen Abwehr und Angriff. Er kann sich zwischen die Innenverteidiger fallen lassen und den Spielaufbau ankurbeln oder Vorne Treffer auflegen, wie im Spiel gegen Heidenheim. Zwar ersetzt Knoll nicht – wie angedacht – Lasse Sobiech als Innenverteidiger, dennoch ist der ehemalige Regensburger unverzichtbar auf seiner „neuen“ Position. Er gibt aus der defensiven Position 1,2 Schlüsselpässe pro Spiel ab, damit agiert auf dem Niveau von Offensivspielern wie Buchtmann oder MMD. Vier direkte Vorlagen sind auch teamintern geteilter Höchstwert.

Henk Veerman kam als Ersatz für den stagnierenden Aziz Bouhaddouz. Allerdings war der Niederländer in der Erendivisie eigentlich nur als Joker im Einsatz. 21 Tore in 108 Spielen für den SC Heerenveen hörten sich nicht nach Knipser an. Doch weit gefehlt, der 2,01m-Mann avancierte trotz fehlender Vorbereitung mit dem Team zum Topscorer. Ohne, dass er permanent Stammspieler gewesen war, Veerman war immer stark und präsent. Von der Bank oder von Beginn an, gegnerische Abwehrreihen bekamen immer ihre Probleme. Auch weil der Volendamer technisch enorm beschlagen ist. Zudem war der 27-jährige das fehlende Puzzleteil um das 4-4-2 beim FCSP endlich zum Funktionieren zu bringen. In Kombination mit Allagui, könnte man endlich zwei Stürmer aufbieten und dennoch Spiele gewinnen. „Der Lange“ gibt die meisten Schüsse im Team ab (2,4) und sein Nebenmann spielt die entscheidenden Pässe (1,3). Ein Transfer der Fragezeichen verursachte, erwies sich als Erfolg guten Scoutings. Veerman passte perfekt in die Offensive mit ihren verschieden Typen. Leider Vergangenheitsform, denn nach seiner schweren Knieverletzung werden wir den Niederländer diese Saison nicht wieder sehen. Ein herber Verlust.

Die beiden Jugendspieler integrierten sich nahtlos in den Kader. Das ist ein großer Erfolg, denn beide hatten ihre regelmäßigen Einsätze. Carstens ist Innenverteidiger Nummer drei mit seinen gerade so 20 Jahren. Zehir ist eine regelmäßige Wechseloption im zentralen Mittelfeld, besonders für Flum. Florian-Horst Carstens (hihi) spielte wenn ruhig und abgeklärt, als wäre er Jahrelang dabei. Zehir überzeugt mit Spielübersicht und tollen Pässen aus der Tiefe. Gleich im ersten von zehn Einsätzen bereitete er den Sieg in Ingolstadt vor.

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Der letzte Neue, spielt schon länger nicht mehr. Er sitzt auf der Bank oder Tribüne und hat die letzte große Erfolgsphase des Vereins mitgeprägt. Die Rede ist von Andre Trulsen. Einst Co-Trainer unter Stani, ist er nun zurück zu Hause. Nachdem letztes Jahr Kauczinski zweiter Assistent schnell wegen persönlicher Gründe den Verein verließ, musste man die Saison mit kleinerem Trainerteam beenden. Mit „Truller“ ist man wieder komplett und durch die neuen Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Bank und Tribüne, ist ein zweiter Co ein wichtiger Faktor. Zudem scheint Trulsen ein Assistent zu sein, der cheftrainerunabhängig beim FC denkbar ist. So wie es Herman Gerland bei den Bayern lange Jahre war.

Immer in die Breite

Ein weiterer Erfolgsfaktor ist der Kader an sich. Im letzten Spiel gegen Magdeburg fehlten verletzt Buchtmann, Neudecker, Buballa, Dudziak. Flum oder Sobota saßen draußen, Sahin war nicht im Kader, im Spiel mussten Veerman und Zander ersetzt werden. Alles potentielle Stammkräfte und dennoch gewann die Mannschaft 4:1. Gut, das Ergebnis kam nach schwacher erster Halbzeit sicherlich etwas glücklich zu Stande, ist aber dennoch beeindruckend. Im Sturm könnten alle Kaderspieler von Anfang an ran. Diamantakos ist ideal im 4-2-3-1 als erster Pressingspieler. Allagui als spielmachender Stürmer. Veerman der Brecher. Wie bereits erwähnt sind auch Kombinationen möglich, gegen Magdeburg funktionierte das 4-4-2 auch mit Allagui und Diamantakos. Letzterer weiß besonders mit seiner Coolness vor dem Tor zu überzeugen. Im Mittelfeld können MMD, Sobota, Miyaichi (endlich wieder fit!), Sahin (wie lange noch?) oder auch Neudecker auf außen agieren. Flexibilität in der Personalwahl scheint garantiert. Und kaum jemand fällt in der Leistung ab. Neudecker spielte überragend gegen Darmstadt und bietet kämpferisch und abschlusstechnisch viel. Sobota kam nach Verletzung zurück, als wäre nichts gewesen und riss zweimal 90 Minuten in Folge ab. Miyaichi spielte zehnmal, trotz Knieverletzung im Sommer und köpfte(!) zwei Treffer. Sahin rieb sich im Derby auf und erzielte beinahe ein Wundertor.

Auf den traditionell unterbesetzten Außenverteidigerpositionen überzeugte Jeremy Dudziak. Das Schweizer Taschenmesser im Kader, kann nahezu alles spielen. Außenverteidiger, Achter und sogar Zehner (gegen Köln), in seinem letzten Vertragsjahr spielt sich der ehemalige BVB-Kicker wohl in die Bundesliga. Die Mischung im Kader scheint zu passen, viele Positionen sind doppelt besetzt, viele Spieler flexibel einsetzbar.

Was nun?

 

Bleibt noch die Rückrunde. Was macht man nun aus der exzellenten Ausgangsposition? Ab besten genau so weiter. Und das nicht im Sinne von Nichts tun. Wenn man Transfers tätigt, dann bestenfalls so gut gescoutet oder qualitativ hochwertig wie im Sommer. Man wird Veerman ersetzten müssen, Nehrig wahrscheinlich auch und evtl. Sahin. Man muss Abgänge wie von Dudziak antizipieren. Man muss diverse Verträge verlängern, damit die nächste Saison kein völliger Neuaufbau ansteht. Der Trainer spielt dabei eine große Rolle. Er hat es geschafft, dass eine funktionierende Mannschaft auf dem Platz steht, die endlich mal eine Hypothek aus der Hinrunde mitbringt. Das Team steht ausgezeichnet da und kann die Fans tatsächlich träumen lassen. Er hat es geschafft ein System zu bauen, in dem fast alle Spieler wechselnd Platz finden, das defensiv stabil ist und offensiv deutlich verbessert ist. Das Spiel des FCSP zeichnet sich durch hohe Positionstreue aus. Besonders defensiv agiert man im 4-4-2 gegen Ball konsequent wie lange nicht. Pressingfallen für schnelles Umschaltspiel, gute Staffelung, möchte man ein Spiel zerstören, so scheint es möglich zu sein. Das Derby war der beste Beweis. Stabilität ist das Schlüsselwort. St.Pauli ist enorm schwer zu schlagen (siehe: http://millernton.de/2018/11/14/fcsp-taktisch-wo-fing-das-an-was-ist-passiert-was-hat-dich-bloss-stabilisiert/?fbclid=IwAR0xmIaK4amekgCaOChgOfSO2fx59l5UspC_BAU0T0i2HFsX8yQUp011myM). Gepaart mit der guten Chancenverwertung, hat man eine gefährliche Mischung gefunden zu haben.

Dazu wurden Jugendspieler eingebaut, die scheinbar tragende Rollen übernehmen können. Das Ganze wirkt wie aufgebaut, auf den starken letzten zwei Heimspielen der Vorsaison. Dort überzeugte das Team durch leidenschaftliche Defensivarbeit und das Nutzen von sich bietenden Chancen. Die Ruhe von Chefcoach und Sportdirektor scheint sich positiv ausgewirkt zu haben. Trotz Kritik und Zweifeln im Sommer, man steht so gut da, wie seit 2011 nichtmehr. Damals hatte man 36 Punkte und wurde am Ende Vierter. Das ist auch für die laufende Runde ein realistisches Szenario. Die ersten zwei Plätze dürften an die Absteiger fallen, ab Rang drei ist alles möglich. Also warum nicht die Relegation anpeilen? Zumal der Trainer schon Erfahrung mit diesen Spielen gemacht hat. In jedem Fall hat St.Pauli gucken Spaß gemacht in der Hinrunde. Das Ganze war überwiegend stressfrei und tat nach schrecklichen Jahren richtig gut. Weiter so!

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